Donnerstag, 10. September 2015

10.09.2015 - Christ IV: Abhauen

Als mein Vater Heinz Ueckert im Jahre 1947 aus russischer Kriegsgefangenschaft nach Deutschland zurückkam, war das Land nicht mehr wie zu Kriegsbeginn 1939.

Ostpreußen, Westpreußen und Schlesien gehört zu Polen – teilweise zur Sowjetunion – zur Strafe. Rund 12 Millionen Deutsche mussten fliehen – wurde vertrieben. Darunter meine beiden Großeltern und alle ihre Verwandten - sowie meine Mutter; weil sie 1944 von Berlin in ihre Heimat zurückkehrte – wegen der alliierten Bombardements.
 
Evakuiert wurden die Eltern meines Vaters und meine Mutter nach Grimmen/Vorpommern.
 
Nach seiner Kriegsgefangenschaft arbeitete mein Vater bei einem Bauern in Thüringen – bis er durch die Hilfe des Roten Kreuzes die neue Anschrift  seines Vaters bekam. Seine Mutter war 1946 in Grimmen gestorben.
 
Durch die Strapazen der Kriegsgefangenschaft konnte mein  Vater nicht mehr in seinem erlernten Beruf arbeiten (Friseur). Zunächst war wegen einer TBC-Erkrankung nicht arbeite, und musste Monate in einem Krankenhaus verbringen.
 
Da er in Russland schon Kommunist geworden war,  durfte er in der sowjetischen Besatzungszone eine Finanzschule in Buckow besuchen. Er wurde umgeschult zum Finanzbilanzbuchhalter. Und arbeitete dann in einer LPG.
 
Sein SED-Parteibuch gab er nach dem Arbeiteraufstand am 17. Juni 1953 in der DDR zurück – und trat der kommunistischen Partei aus. Das konnte man damals ohne Strafe – allerdings der Druck wurde Jahr für Jahr stärker - auch für meinen Vater. Man wollte, dass er der Partei wieder Eintritt. 
 
Und das war der Grund, dass meine Eltern mit ihren beiden Kindern  - und zwei Koffern – am 18. November 1958 nach West-Berlin „abhauten“, wie man damals sagte. Der tiefe Hintergrund war auch: alle Geschwistern meiner Eltern, ja nahezu alle Verwandten, wohnten in der Bundesrepublik.
 
Für mich als Zehnjähriger war das trotzdem ein großer Schock. Ich wollte nicht in den kapitalistischen Westen. Die DDR-Propaganda war in mir wie ein Virus eingedrungen. Ich hatte vor dem Westen Angst.
 
Ich fühlte mich wohl in Grimmen/DDR. Ich habe dort nie gehungert, hatte Freunde, sprach Platt-Deutsch (und wurde deshalb in Berlin immer gehänselt), liebte meine Schule und meine Lehrerin … und auf den Luxus in West-Berlin – wie Schokolade, Kaugummi, Wildwest, Mickey-Mouse-Hefte, die tollen Kuchen und Torten, schöne Schuhe und Klamotten – konnte ich locker verzichten.

Wenn ich in Grimmen wieder war - dann vermisste ich diesen Luxus nicht.
 
Als meine Eltern mir am 19. November 1958 in West-Berlin - in der Wohnung meiner Großeltern – eröffneten, dass wir niemals mehr nach Grimmen/DDR zurückkehren werden, war ich zutiefst erschüttert. Ich verstand nichts mehr. Meine Vorstellung von Welt brach in sich zusammen ...
 
Meine Mutter erzählte mir nach Jahren - als ich um die 16 oder 17 Jahre war - was geschehen war. Ich hätte plötzlich gestottert  - und in Stößen herausgebrüllt: „Was werde Frau Schulz sagen, wenn ich nicht mehr komme! Und alle meine Freunde."

Frau Schulz war meine Lehrerin, die ich sehr gern mochte. 

Dann habe ich einen Heulkrampf bekommen – habe mich auf's Sofa geworfen – und habe fast eine Stunde heftig geweint – bis ich aus Erschöpfung eingeschlafen war.
 
Mein vorpommersche Gott aus der Marienkirche hatte mich verlassen.

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